Heinz Strunk ist ein Chronist des Abseitigen, ein Sammler jener Momente, die andere übersehen oder lieber verdrängen. Durch seine Fantasie verwandeln sich Alltagsroutinen, soziale Ausrutscher und kleine Katastrophen in Literatur, Musik und Bühnenstücke von bestechender Genauigkeit, komisch und verstörend zugleich.
Seit seinem Debütroman Fleisch ist mein Gemüse hat er mit beeindruckendem Facettenreichtum bewiesen, dass Groteske und Tragik oft nur einen Herzschlag voneinander entfernt sind. Spätestens mit Der Goldene Handschuh wurde deutlich, wie unerbittlich sein Blick sein kann, wenn er Milieus ausleuchtet, in denen Humor nicht erlöst, sondern bloß freilegt. Bei ihm erscheint Humor nicht als Schutzschild, sondern als Skalpell. Er seziert die Welt, ohne sie zu entschuldigen, aber auch ohne sie moralisch zu verurteilen. Strunk ist kein Lautsprecher, sondern ein Resonanzraum. Einer, der zeigt, dass Ironie und Empathie keine Gegensätze sind und dass Popkultur härter, witziger und menschlicher klingt, wenn er sie erzählt.
Herr Strunk, wie geht es Ihnen?
Danke, ich kann nicht klagen. Tue es aber gerne, um es mal so zu sagen.
Sie treten heute in Stuttgart auf. Über welchen Überraschungsgast würden Sie sich besonders freuen?
Über gar keinen. Es wäre ein Grauen, wenn da irgendwie ein Gast käme und mich bei meiner sehr uhrwerkartig-abschnurrenden Vorstellung stören würde.
Macht Sie das nervös, wenn Freunde oder Familienangehörige im Publikum sitzen?
Nö, im Publikum ist mir das egal, aber wenn jemand auf die Bühne stürmen würde, würde ich mir das verbitten. In dem Sinne meine ich das.
Wenn Sie sich eine Person auf der Welt aussuchen könnten, wen hätten Sie gerne als Gast zum Abendessen?
Tja… wahrscheinlich tatsächlich jemand aus meinem näheren Umfeld vermute ich mal. Ich möchte weder George Clooney noch Putin kennenlernen und würde mich wahrscheinlich für meine beiden Kollegen von Studio Braun entscheiden.
Und wen als Mitpatient im Sanatorium?
Jacques Palminger und Rocko Schamoni.
Beide?
Ja, als Esser und Patienten.
Wie oft hatten Sie heute schon intrusive Gedanken?
Was bitte für Gedanken?
Intrusive Gedanken.
Mit Fremdwörtern habe ich es nicht so.
Das sind in der Psychologie unerwünschte, plötzlich und unerwartet ins Bewusstsein tretende Gedanken in unpassenden Situationen, die ja auch bei Ihnen in Zauberwerk 2 beschrieben werden.
Das kann ich gar nicht aufzählen, wie die immer eruptiv auf mich einprasseln. Das ist leider eine das Leben verdunkelnde Angelegenheit. Aber wie viele das heute waren, weiß ich nicht. Ich sag mal 70.
Überfüllte Bahnen oder auch Supermarktkassen wären ja eigentlich prädestiniert dafür. Gab es in der Vergangenheit einen speziellen Gedanken, der Ihnen in Erinnerung geblieben ist, weil er eventuell besonders schockierend war?
Nö, in der Regel sind das ja Situationen, die besonders förmlich und formal sind, dass man dann irgendwie laut losschreien möchte oder so, das kennt ja jeder. Aber ansonsten, also die düsteren Gedanken sind so mannigfaltig, dass ich das jetzt gar nicht auseinanderdröseln kann, wann da was auf mich eingeprasselt ist.
Ihre Hauptfigur Jonas Heidbrink ist ein Erfolgsmensch. Inwieweit hat sich…
Den Text hat mein Lektor geschrieben und ich habe das dann unwidersprochen so hingenommen.
Also sind Sie eigentlich nicht einverstanden damit?
Naja, unter einem Erfolgsmensch versteht man eigentlich was anderes als jemand wie Heidbrink, der einen großen Wurf gelandet hat und ansonsten aber ein depressives, ängstliches und auf der dunklen Seite des Lebens wohnendes Naturell ist. Als Erfolgsmensch stellt man sich ja eher jemand wie Jürgen Höller vor… oder Wolfgang Grupp. Wolfgang Grupp ist ein Erfolgsmensch.*
Inwieweit hat sich Ihre Sicht auf Erfolg oder Misserfolg über die Jahre verändert?
Ja, sagen wir mal so, ich hatte früher die naive Vorstellung, dass mit dem Eintreffen des Erfolgs sich auch meine gesamte persönliche Situation subjektiv deutlich verbessern würde … und kurzzeitig war das dann auch mal … aber grundsätzlich ändert das relativ eher wenig. Also natürlich möchte ich jetzt nicht wieder in der gleichen Situation sein, wie vor 20 Jahren. Ohne Geld und ohne alles. Aber ich könnte jetzt nicht sagen, dass ich mich großartig anders fühle als früher.
Also machen Sie dann auch finanzielle Aspekte mit Blick auf Ihre Zeit bei Tiffany’s nicht davon abhängig?
Null. Wobei das auch relativ ist. In dem Jahr vor dem Erscheinen meines Debüts, Fleisch ist mein Gemüse (2004). Da bin ich über Monate mehrmals vor Geldsorgen aufgewacht – das war auch nicht schön.
Die Zeiten sind zum Glück vorbei.
Ja, aber da hat man dann wenigstens konkrete Probleme.
Jonas Heidbrink beschreibt das Leben als dauerhaften Zustand aus Angst, Panik, quälender Langeweile, Aussichtslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und allen anderen Losigkeiten. Wie viel von dieser Diagnose trifft auf Ihre Weltsicht zu?
55 Prozent.
Ja? Ja.
Und die anderen 45? Das sind andere Probleme, die ich habe. Das sind meine ganz anderen Probleme.
Sie haben das Buch Rocko Schamoni gewidmet, oder? Warum?
Ja, tatsächlich aus Dankbarkeit, weil Rocko Schamoni eine ganz wichtige Person in meinem Leben ist. Zum einen verehre ich ihn aus diversen Gründen sehr. In erster Linie aus menschlichen Gründen. Und wenn ich ihn nicht getroffen hätte und er sich meiner damals nicht angenommen hätte, als ich noch zur Spackofraktion zählte, dann wüsste ich gar nicht, ob sich überhaupt so eine Laufbahn ergeben hätte. Man braucht immer irgendwie, gerade wenn man im künstlerischen Bereich tätig ist, aber auch in allen anderen, braucht man immer Leute, die einem unter die Arme greifen. Die vielleicht erkennen, dass in einem etwas steckt, das man selbst noch gar nicht weiß. Und so habe ich Rocko sehr viel zu verdanken. Deswegen dachte ich, es sei angemessen, ihm mal ein Büchlein zu widmen.
Tauschen Sie sich da im Vorfeld auch mit ihm aus, wenn Sie eine Idee für ein neues Projekt haben?
Nein, gar nicht. Da macht jeder seine eigene Sachen. Wir haben Studio Braun zusammen und mittlerweile auch Theater. Da haben wir immer genug zu tun. Aber dass er mir jetzt irgendwie erzählt, welche Buchprojekte oder was er noch so vorhat. Also natürlich unterhält man sich in der Garderobe oder so. Aber dass man sich da irgendwie so austauscht, wie würdest du das machen oder so, das findet nicht statt.
Wie stehen Sie zum aktuellen Bedürfnis einiger Menschen, erstaunlich viel zu pathologisieren? Also Stichwort „Küchenpsychologie”. Vor allem auf Social Media.
Ja, natürlich schrecklich und schwach. Was soll man dazu sagen? Ich beschäftige mich ja seit Jahrzehnten schon mit diesen Motivations- und Erfolgscoaches, die ja früher schon in Gestalt von Jürgen Höller und Bodo Schäfer auftraten. Das war die erste Generation, die ihren Schwachsinn verkündet hat, wie man erfolgreich wird. In der Corona-Zeit ist ja eh alles sehr viel schlimmer geworden, was das betrifft. Und da sind ja irgendwelche Glückskeks-Gurus wirklich an Banalität und Dummheit nicht mehr zu überbieten. Gleiches gilt natürlich auch für dieses Behandeln von seelischen Verwerfungen. Das ist wirklich schlimm und vor allem ist es auch respektlos gegenüber den Leuten, die wirklich Probleme haben.
Ja, das stimmt. Sie beschreiben die Klinik als Ort der Vitalwerte, Suppe und Langeweile. Was hat Sie während Ihrer Zeit in der Klinik mehr „getriggert”? Die Patienten, das Personal oder das Essen?
Ich war ja acht Tage da und habe versucht, so viele Eindrücke wie möglich einzusammeln und die habe ich dann abends immer aufgeschrieben. Also so wie es im Buch steht, ist es auch ungefähr gewesen. Die Patienten habe ich mir natürlich ausgedacht. Also es gibt natürlich ein paar Vorlagen, aber wesentlich ist das Figurenensemble meiner Fantasie entsprungen und hat mit der Klinik nichts zu tun gehabt.
Darf ich fragen, wie die Patienten auf Sie reagiert haben? Man kennt Sie ja.
Nö, da kennt man mich nicht. Ich bin Special Interest. Also es gibt Günther Jauch. Dann gibt es Chris Tall und so Vögel. Und dann gibt es mich. Ich bin nur in so bestimmten Kreisen bekannt. In der Klinik hat mich von den Patienten glaube ich überhaupt gar keiner erkannt und von den Ärzten nur so ein paar. Aber die haben sich auch keine großen Gedanken gemacht, was mich denn wohl dahin führt.
Und dann haben Sie sich auch nicht als bekannter Autor vorgestellt?
Nö.
Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich selbst am lustigsten finden, wenn es Ihnen schlecht geht.
Habe ich das? Ja.
Von der Aussage würde ich zurücktreten wollen. Das ist Unsinn und auch etwas folkloristisch. Dieses ewige: Ich kann nur Songs schreiben, wenn es mir nicht gut geht. Wenn gerade jemand gestorben ist, halte ich alles für Quatsch. Das ist so folkloristisch. Ich mache das seit 40 Jahren. Wenn ich jetzt ständig irgendwie, also wenn ich dauernd irgendwie bestimmte Umstände benötigte, um irgendwie was zu machen, das wäre ja geradezu unprofessionell.
Aber inwieweit ist Melancholie essentiell in Ihrem Werk?
Ich bin selbst irgendwie Melancholiker und das zieht sich dann wie so ein roter Faden. Das ist halt so, also jeder, also die Ich finde, wenn man dann mal die Leute überschreibt, was sie ausmacht und was sie können, was sie beherrschen, womit sie sich auskennen. Damit kenne ich mich ganz gut aus. Und das kennen auch viele andere Leute, die von derartigen Dingen betroffen sind. Deswegen spielt das in meinen Büchern eine große Rolle. Aber es gibt auch noch andere Sachen. Also das muss man ja auch deutlich unterscheiden. Meine Laufbahn teilt sich ziemlich trennscharf in den Bereich der Komik, alles was damit zu tun hat. Das ist dann häufig auch albern, also zum Beispiel die Serie, die ich da jetzt mal vor zwei Jahren geschrieben habe „Last Exit Schinkenstraße”. Die ist zum Beispiel auch nicht tragikomisch, sondern einfach eine lustige Comedy oder so. Das Traurig findet sich dann eher im Literarischen wieder.
Wie blicken Sie auf die neue Generation Z bzw. Alpha? Und fühlen Sie sich manchmal wie ein Zoologe im TikTok-Dschungel?
Also ich habe da gar nicht so viele Berührungspunkte und versuche mich darüber auch nicht weiter aufzuregen. TikTok habe ich gar nicht und Instagram irgendwie zwangsläufig, weil man das eben braucht… mit einer lächerlich-geringen Followerschaft… und bediene das gelegentlich auch. Ich freue mich , dass mein Publikum relativ gemischt ist. Das kriege ich immer mit, wenn ich live auftrete. Und da, erfreulicherweise, sind da eben nicht nur Leute in meinem Alter, sondern auch irgendwie mal so 25-, 30-Jährige. Es wachsen also immer welche nach, die sich für mein Kram interessieren, was ich ganz erfreulich finde. Überhaupt finde ich, dass ich eine sehr gute, das muss in aller Unbescheidenheit sagen, eine sehr schöne, sehr gute Klientel habe. Das sind alles gebildete, gut aussehende Menschen, die sich benehmen können.
Definitiv. In welcher Situation haben Sie zuletzt Schadenfreude verspürt? Ich glaube, das ist ja keine Schadenfreude. Aber alles, was mit den unglaublichen Sauereien um Puff Daddy zutun hat. Ich bin froh, dass der seiner gerechten Strafe zugeführt wird. Das begleite ich dann immer mit so einem bisschen, endlich hat es mal jemand erwischt, der es verdient hat.
Absolut. Dann kommen zum Abschluss noch die Entweder-Oder-Fragen.
Morgens Fango oder abends Tango?
Morgens Fango.
Was würden Sie eher aushalten:
Saunieren mit Friedrich Merz oder Philosophieren mit Donald Trump?
Das Zweite.
Dinieren mit Hannah Arendt oder Spazieren mit Thomas Mann?
Ach, den Thomas Mann, den hätte ich doch zu gerne mal kennengelernt.
Ein Jahr stationäre Therapie oder ein halbes Jahr Lieder schreiben… und zwar für Andreas Gabalier?
Ach, Lieder schreiben mit Andreas Gabalier, das könnte ich mir gut vorstellen.
Ja?
Ja, da würde mir einiges einfallen.
Astra oder Holsten?
Holsten. Astra, schmeckt wirklich nicht besonders gut, muss man sagen. Also Holsten ist dem vorzuziehen.
HSV oder St. Pauli?
HSV.
Und die allerletzte Frage, was ist das Schönste am Hagestolz-Dasein? Das ist ja so ein Begriff, den habe ich mal aufgeschnappt. Ich finde das immer ganz schön, so antiquierte Worte, die keiner mehr kennt, aufzuschnappen. Und habe das dann irgendwie auf mich übertragen. Aber das ist natürlich völlig übertrieben und stimmt auch nicht so richtig.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit. Vielen lieben Dank und ich wünsche Ihnen einen schönen Auftritt heute Abend. Ich mir auch. Aber das wird schon.
(*Anmerkung: Das Interview fand bereits vor den tragischen Ereignissen um Wolfgang Grupp statt).
Wer Heinz Strunk live erleben möchte, findet hier die aktuellen Tourdaten seiner anstehenden Lesetour.

